Mein Vater war so stolz gewesen, als Johannes der Täufer in unser Haus gekommen war, um ihm mitzuteilen, dass er mich zu seinem Schüler erwählt hatte. Zugegeben, Johannes war eine ungewöhnliche Erscheinung, aber kaum jemand zweifelte daran, dass er ein echter Prophet war. Und nun sollte ich sein Schüler werden. Ich hatte viel dafür getan. Ich hatte die heiligen Schriften studiert, solange ich denken konnte, und ich hatte sie auswendig gelernt, denn es war immer mein höchstes Ziel gewesen, einem angesehenen Rabbi zu folgen. Natürlich sagte mein Vater nichts davon, was er sich für mein Leben erhofft hatte. Einem Rabbi zu folgen, war eine große Ehre, auch wenn es bedeutete, dass ich die Familientradition nicht weiterführen würde. So hatte ich mich von ihm und meiner Mutter verabschiedet, um Johannes auf Schritt und Tritt zu folgen. Ich wollte werden wie er.
Mittwoch, 15. Mai 2024
Eine Begegnung, die alles veränderte.
Menschen kamen uns nach, ganz gleich, wo wir waren, um seine Predigten zu hören und ihr Leben durch eine Taufe Gott neu zu weihen. Manchmal überließ Johannes mir und den anderen Jüngern diese Aufgabe. Johannes war ein leidenschaftlicher Prediger, aber wenn wir mit ihm allein waren, sprach er wenig. Dafür fastete er viel, und wir taten es ihm gleich. Ich war stolz, einer seiner Jünger zu sein. Und ich liebte die ehrfürchtigen Blicke der Menschen in den Dörfern. Keiner hatte meinen Vater je so angesehen.
Es gab noch einen anderen Rabbi, der auf sich aufmerksam machte. Johannes schien ihn zu kennen und zu schätzen. Einmal hörte ich ihn sagen, dass er der verheißene Messias sei. Das jedoch konnte ich mir kaum vorstellen. Sein Lebenswandel hatte nichts mit der Radikalität von Johannes zu tun. Er war bekannt dafür, dass er aß und trank. Außerdem folgten ihm einige Frauen und nicht nur ich fragte mich, in welcher Beziehung er zu ihnen stand. Auch er hatte sich einige Schüler erwählt. Die meisten jedoch waren einfache Fischer. Sogar ein Zöllner war dabei. Ich hatte mir längst ein eigenes Bild von diesem Mann gemacht, der nicht einmal dafür sorgte, dass seine Jünger regelmäßig fasteten.
Johannes war bekannt für seine scharfe Zunge. Er hatte sich sogar in die Angelegenheiten des Königs Herodes eingemischt und war dafür eingesperrt worden. Jeden Tag brachten wir ihm, was er brauchte. Auch heute Morgen waren wir bereits vor Sonnenaufgang aufgestanden und hatten auf dem Markt Honig und Brot für Johannes gekauft. Jetzt standen wir vor dem Gefängnis und warteten auf den Vorsteher, der uns zu Johannes führen würde. Wir schwiegen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich machte mir Sorgen. Was würde aus uns werden, wenn Johannes im Gefängnis bleiben müsste? König Herodes war bekannt für seine Kaltblütigkeit. Ich befürchtete, Johannes könnte seine Zurechtweisung gegenüber Herodes mit seinem Leben bezahlen müssen. Es durfte hier nicht enden. Nicht in einem schmutzigen Gefängnis. Ich hatte alles dafür aufgegeben, Johannes zu folgen.
Die Sonne brannte mittlerweile unbarmherzig auf uns nieder, als die Tür des Gefängnisses sich endlich öffnete. „Folgt mir!“ Die Stimme des Vorstehers war kalt und schneidend. Wir fanden Johannes mit geschlossenen Augen in seiner Zelle sitzen und beten. Wir zwängten uns zu viert in den muffigen Raum, als die Tür hinter uns bereits wieder ins Schloss fiel. Johannes öffnete die Augen und schaute jedem von uns ins Gesicht. Seine Augen ruhten lange auf mir. Ich konnte seine Gedanken nicht ergründen. War das Sorge? Schließlich nahm er das mitgebrachte Essen aus meiner Hand und nickte uns zum Dank zu. „Abiah und Shimei, geht zu Jesus und fragt ihn: Bist du der, der kommen soll? Oder sollen wir auf einen anderen warten?"
Überrascht schauten wir uns an. Doch Johannes sagte nichts weiter, sondern begann zu essen. Deshalb nickte ich und verließ gemeinsam mit Schimei das Gefängnis.
Der Fußmarsch nach Galiläa war lang und beschwerlich. Unterwegs fragten wir immer wieder nach dem Prediger aus Nazareth, ansonsten schwiegen wir, wie wir es gewohnt waren. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Ich vermutete, dass Johannes Gewissheit brauchte. Vermutlich war seine Überzeugung, wer dieser Jesus war, ins Wanken geraten. Es erfüllte mich mit Stolz, dass er mich für diese Aufgabe auserwählt hatte.
Je näher wir dem Ort kamen, in dem wir Jesus vermuteten, desto häufiger hörten wir Geschichten von Wunderheilungen. Ich gebe zu, ich war skeptisch. Menschen konnten so leichtgläubig sein. Gerade die Menschen hier in den Dörfern waren ungebildet und einfach. Aber ihre Begeisterung wirkte echt. Es war bereits Nachmittag, als wir von weitem eine aufgeregte Menschenmenge sahen. Es mussten fast hundert Menschen sein, die sich außerhalb des Dorfes unter einer Baumgruppe versammelt hatten. Wir hörten von weiten schon Schreien und Jubel. In der Nähe der Menschenmenge sahen wir eine Gruppe Pharisäer, die mit verschränkten Armen verfolgten, was da passierte. Je näher wir kamen, desto klarer wurde uns, was es war. Jesus konnten wir zwar nicht sehen, aber er musste mitten unter den Menschen sein, denn immer wieder lösten sich kleine Gruppen aus der Menge, die lachten und tanzen und davon erzählten, dass er sie geheilt habe. Shimei und ich schüttelten die Köpfe, als eine ältere Frau uns fragte, ob auch wir gekommen waren, um uns von Jesus heilen zu lassen. Die Augen in ihrem faltigen Gesicht strahlten, als sie uns ungefragt davon erzählte, dass er ihren taub geborenen Enkel geheilt hatte. Jetzt erst sahen wir den Jungen an ihrer Hand. Er musste fast sechs Jahre alt sein. Er wirkte überfordert. Und sein Blick ging nervös hin und her. „Ruben! Sag den Männern, was passiert ist!" Die Alte hatte den Jungen sanft an den Schultern gefasst und ihn zu uns gedreht. Er zögerte, aber seine großen, dunklen Augen strahlten: „Ich kann hören!" Er stotterte leicht, und mich überkam ein Schauer. Dieser Junge sprach die Wahrheit, das konnte ich sehen. „Gehen Sie! Er macht jeden gesund!" Sagte die Frau zu uns und zog den Jungen jetzt weiter in Richtung Dorf. Da hörten wir einen grausigen Schrei aus der Menschenmenge. Einige Menschen stolperten zurück, da konnten wir den Mann sehen, der in der Mitte der Gruppe stand. Das Geschrei war furchteinflößend, aber der Mann stand ruhig da. Er schien auf etwas zu warten. Die Menschenmenge drängte zurück, eingeschüchtert von dem Geschrei. Allerdings wollte offenbar keiner verpassen, was da gerade geschah. Plötzlich brach der Schrei ab, und ein Raunen ging durch die Menge. Im nächsten Moment wurde gejubelt, geklatscht und die Menschen umarmten sich. Shimei und ich waren nun fast bei der Gruppe angekommen. Mehrere Männer lösten sich daraus und wandten sich zu uns. „Der alte Ephraim ist frei!!! Der Dämon hat ihn verlassen! Jesus hat ihn geheilt! "Nur mit Mühe konnte ich die Männer davon abhalten, mich zu umarmen und mit sich zu ziehen. Ich schaute zu Shimei, der mit offenem Mund dastand, den Blick auf diesen Jesus gerichtet.
Alle waren völlig aus dem Häuschen. Mein Blick ging zu der Gruppe Pharisäer. Sie jedoch standen noch immer mit verschränkten Armen da. Nur tuschelten sie jetzt miteinander. Ihre Missbilligung war sogar von hier aus zu sehen.
Ich rüttelte Shimei an der Schulter, um ihn aus der Starre zu lösen. "Wir haben einen Auftrag", sagte ich. Er nickte langsam und bedächtig und wir näherten uns der Menge bis auf zehn Schritte.
Von hier aus konnten wir Jesus nun deutlich sehen. Er hatte sich hingekniet und schien für eine junge Frau zu beten. Seine Stimme klang warm und zuversichtlich. Die Menschen drängten wieder nach vorne. Wir sahen alte und junge, schäbig gekleidete und offensichtlich Reiche. Jesus ergriff die Hand der Frau und wir konnten sehen, dass ihre Beine furchtbar dünn und verformt waren. Trotzdem zog er sie hoch. Einige Frauen hielten sich voller Entsetzen die Hände vor den Mund. Einen Moment lang hielt Jesus die Frau. Dann ließ er sie los. Ich konnte ihren Blick sehen. Ich sah zuerst Unglauben, dann Staunen und dann eine tiefe Freude. Ihr Blick ging zu Jesus, dann zu den Leuten, dann auf ihre Beine. Dann begann sie zu tanzen. „Ich kann wieder gehen!" Ihre Stimme klang so überrascht, und ihre Freude wirkte so echt, dass es auch mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich hörte Shimei neben mir flüstern: „Er ist es!" Und ich wusste, was er meinte. Konnte das wirklich der Messias sein?
Wir standen noch eine ganze Weile in der Gruppe. Immer neue Kranke wurden zu Jesus gebracht, und wieder und wieder sahen wir, wie er die Menschen gesund machte. Ich spürte, wie Glauben in meinem Herzen wuchs. Wie konnte ein normaler Mensch solche Wunder tun? Als Shimei mich nach vorne schob, erschrak ich. „Frag ihn!"
Also stolperte ein paar Schritte nach vorne. Jesus drehte sich zu uns um. Seine Augen blickten uns freundlich und abwartend an. Sein Mund lächelte. Er wirkte müde und stark gleichzeitig. Wieder legte Shimei seine Hand auf meinen Rücken. Diesmal klang seine Stimme eindringlicher. „Frag ihn! Abijah!"
Jesus blickte von Shimei zu mir und wartete. Endlich fand ich meine Stimme. "Johannes schickt uns. Bist du der Messias oder sollen wir auf einen anderen warten?" Jetzt wurden seine Augen noch sanfter. Er breitete seine Hände aus und zeigte auf die Menschen, die ihn noch immer umringten. „Die Blinden sehen die Lahmen gehen, Unreine werden heil, die Tauben hören, die Toten leben und den Armen wird die gute Botschaft verkündet. Und glücklich ist jeder, der sich nicht an mir stößt." Dabei ging sein Blick zu der Gruppe Pharisäer, die mit abweisenden Mienen noch immer in der Nähe standen. Plötzlich erkannte ich, dass ich war wie sie. Ich störte mich an Äußerlichkeiten und nahm mir selten Zeit für die Menschen, die mir begegneten. Ich hatte nur mich selbst im Blick. Jesus jedoch nahm sich Zeit, die Menschen wahrzunehmen. Er hörte sich ihre Geschichten an, berührte sie, heilte sie, liebte sie. Ich erkannte, dass auch ich so lieben wollte. Mir war, als hätte Jesus meine Gedanken gelesen, denn er kam einen weiteren Schritt auf mich zu und nahm mich in seine Arme. Ich ließ es geschehen. Heiße Tränen der Scham tropften auf seine Schultern. Es schien ihn nicht nur zu stören. Eine ganze Weile standen wir so da. Dann hielt Jesus mich auf Armlänge vor sich und nickte mir zu.
„Geht und sagt Johannes, was ihr gesehen und gehört habt." Shimei und ich machten uns zugleich auf den Weg zurück. Mein Herz war leicht. Wir hatten den Messias gefunden.
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